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Edles Schweigen. – Weshalb wir beim Kangeiko den Blick nach innen wenden.

Im Karate ist die Kontrolle des Geistes wichtiger als die Beherrschung der Karatetechnik. (Funakoshi Gichin)

 

Was die meisten, die vom Kangeiko „Karate und Meditation“ hören, am meisten befremdet und oft geradezu schockiert, ist die Ankündigung, daß dieses Retreat im Schweigen stattfindet.

WAS IST SCHWEIGEN

Wie alle, die mit dem Schweigen keine eigene Erfahrung haben, dachte ich, als ich selbst vor Jahren erstmals an Schweige-Retreats teilgenommen habe zunächst, „Schweigen“ bedeute „nicht sprechen“. Im Laufe der Zeit begann ich zu begreifen, daß das Nicht-Sprechen nicht das Wesentliche am Schweigen ist.

 

Der eigentliche Sinn des Schweigens liegt darin, daß man in der Stille ganz von selbst beginnt, sich auf sich selbst zu konzentrieren. Man hat Muße, sich selbst zu beobachten, lernt, sich selbst so zu sehen, wie man aktuell ist. Sobald man nicht nach außen kommunizieren muß, bemerkt man, was im eigenen Kopf-Kino geboten wird. Das Schweigen dient also zuerst vertiefter Selbstbeobachtung. Es führt zur Erkenntnis dessen, was im eigenen Geist ist. Darauf kann ein Training zur Kontrolle des Geistes aufgebaut werden.

 

Ein solches Training zur Kontrolle des Geistes ist von zentraler Bedeutung für das Karate. Dies spricht Funakoshi Gichin in besonderer Weise in seinem fünften Leitsatz der Karate-do Nijûkun aus, wenn er sagt: 技術より心術。 (Gijutsu yori shinjutsu.) Normalerweise übersetzt man diese Sentenz mit der bekannten Floskel: „Die Kunst des Geistes kommt vor der Kunst der Technik.“ Das bedeutet: Für das Karate ist die Kontrolle des Geistes wichtiger als die Beherrschung der Karatetechnik.

 

Wenn man sich – oder genauer seine Gedankenwelt – und das eigene Bewußtsein im Schweigen nur einige wenige Tage selbst beobachtet, beginnt man sich im Kopf zu klären. Das ist der Beginn der „Kontrolle des Geistes“. Man beruhigt sich, entspannt sich. Streß und Hetzte fallen von einem ab. Das SmartPhone hält still. Radio, Fernseher und Computer sind aus. Wenn man sich zurückzieht, verblassen die Ablenkungen.

 

Aber die Welt des persönlichen Erlebens wird deshalb nicht ärmer. Im Schweigen lernt man auf einmal zu schätzen, was man bisher kaum beachtet hat: Wie wärmt, duftet, schmeckt eine Tasse Tee, die man Gedanken-„verloren“ in einer Trainings-Pause still für sich alleine schlürft! – Wie festlich erscheint einem der Schimmer der Kerzen, die während der dunklen Tages- und Abendstunden im Januar unser Dôjô und die Meditations-Halle erleuchten, weil man die ganze Aufmerksamkeit für sich selbst zur Verfügung hat. – Schweigend hört man den Regen deutlicher gegen Fensterscheiben klopfen, sieht die Schneeflocken draußen sanfter zur Erde sinken. – Man achtet in der Stille ganz besonders sich selbst, tut sich Gutes, gewinnt Zufriedenheit.

 

Im Training spürt man sich selbst deutlicher. Man erkennt sich selbst, betrachtet sich wie unter der Lupe vergrößert, man schenkt sich bis in die eigene Tiefe Beachtung. Man fühlt: „Das ist mein Körper in Ruhe und Bewegung. Das ist mein Atem. Diese Technik fühlt sich in mir so an, jene Technik fühlt sich in anderer Weise an.“ – Im Schweigen fällt einem deutlich auf, wann man ganz bei der Sache ist und wann nicht. Alles Mechanische und Unbewußte fällt ab. Zuerst klärt sich der Geist, dann die Technik. Aber es ist im Schweigen noch mehr zu entdecken als Geist und Technik.

 

Bald stellt man fest, daß das Schweigen – in buddhistischen Kreisen oft „Edles Schweigen“ genannt – einem ungeahnten inneren Freiraum verschafft. Man wird, wenn man sich in einer geschlossenen Gruppe auf das Schweigen geeinigt hat, von den andern in Ruhe gelassen, weil ja alle in der Gruppe das Schweigen wahren. Man merkt sehr schnell, daß man im Schweigen gerade so sein kann, wie man eigentlich ist – und nicht so sein muß, wie man glaubt, daß die andern es erwarten. Alles fällt von einem ab. Und dies wiederum entspannt den Geist.

 

Schweigend ist man sich selbst genug. Man tut einfache Dinge: man liegt, sitzt, geht und steht, man atmet, ißt, trinkt, geht zur Toilette; man trainiert, meditiert, ruht aus, schläft tief und entspannt. Und falls man – was durchaus vorkommt – mit sich innere Kämpfe austrägt, kämpft man nur mit sich selbst. Der Buddha soll gesagt haben: „Es gibt nichts außerhalb Deines Bewußtseins, das Dich beunruhigen könnte.“ Wer das begriffen hat, beginnt in sich zu ruhen.

 

DIE BEFÜRCHTUNG

Nun bekommen aber viele, die das Kangeiko noch nicht kennen, ein mulmiges Gefühl, wenn sie an das Schweigen denken. „Ich möchte mich gerne zum Kangeiko anmelden. Aber ich habe großen Respekt vor der Anforderung des Schweigens. Das habe ich noch nie gemacht.“, schrieb mir ein Teilnehmer. – Oft werde ich gefragt, ob die Inhalte im Training auch schweigend vermittelt werden?

 

Oder: „Wie kann man etwas fragen, falls man etwas nicht versteht?“

 

Ich kann dazu sagen: Nicht alle Inhalte des Trainings werden schweigend vermittelt. Es ist alles ganz natürlich. Zwischen allen Teilnehmern entsteht überraschend schnell stillschweigende Übereinkunft und wortloses Verstehen. Das macht alles einfach und leicht. Vieles muß mit einem Male nicht mehr erklärt werden.

 

DIE PRAXIS

Gleichgültig, wie groß anfänglich die Bedenken einzelner Teilnehmer hinsichtlich des Schweigens gewesen sein mögen, im Nachhinein hat das Schweigen während des Kangeikos noch niemand als schwierige Bedingung gewertet. Vielleicht liegt es daran, daß es während des Kangeikos letztlich nicht viel zu sagen gibt: Wer am Kangeiko teilnimmt, ist vollkommen umsorgt: Alle haben es trocken und warm, niemand hungert oder leidet Durst, es gibt ein ganztägig animiertes Programm, dem alle folgen. Alles ist gut.

 

Natürlich verstehe ich die Befürchtungen. „Schweigen“ gehört in unserer überreizten modernen Welt nicht mehr zu den wirklich geschätzten Kulturtechniken, sowenig wie „Müßiggang“.

 

Sobald diese eigentlich essentiell wichtigen „Leerstellen“ im modernen Leben auftauchen – hier also im Zusammenhang das „Schweigen“ – ja, wenn sie auch nur erwähnt werden, werden manche Leute nervös. Dabei sind es gerade diese „Leerstellen“, die das größte Kreativitätspotential freisetzen. Beim Kangeiko ist es das Schweigen, das uns die Freiräume öffnet. Das im Schweigen gewonnene Potential lassen wir in die Ausübung unserer Kampfkunst fließen, l’art pour l’art: Aus uns heraus können wir einfach Karate üben, ohne Gedanken an unsere Leistungsfähigkeit oder sonstigen Nutzen.

 

Ich gebe jedes Jahr beim Kangeiko eine sorgfältige Einführung, wie das Schweigen praktisch funktioniert. Die, die schon wissen wie es läuft, unterstützen die Neulinge mittels ihrer Präsenz und durch ihr Vorbild. Alle sind sehr solidarisch. Das Schweigen erzeugt eine unglaublich dichte Gemeinschaft, eine einfühlsame und mitfühlende Solidarität. Jeder kann sich angstfrei und entspannt in der Gemeinschaft bewegen. Es gibt keine Unsicherheit. Und es entsteht für vier Tage eine enge Gemeinschaft, ein wirkliches Dôjô.