Die beiden großen, fast einwöchigen Retreats TaiMeiGeiko und Kangeiko unterscheiden sich grundlegend von den populären Karate-Gasshukus der großen Karateverbände und anderen "Lehrgängen". Es geht bei unseren Retreats nicht nur um ein paar Tage Karate-Training im üblichen Sinn. Karate ist hier lediglich der Anlaß für eine intensive und ganzheitlich zu verstehende Übungszeit, während der körperliche und geistige Belange gleichermaßen Berücksichtigung finden.
Unsere beiden Retreats haben eindeutig spirituellen Charakter. Sie finden in Klausur statt und können als Klosteraufenthalt auf Zeit begriffen werden. Ein Training im Sinne dieses Konzepts läßt sich nur dann realistisch umsetzen, wenn bestimmte Voraussetzungen gegeben sind, die sowohl die Organisation der Veranstaltung als auch die Motivatioin der Teilnehmer betreffen.
Unsere Karate-Retreats richten sich an Karatekas, die am geistigen Hintergrund der Kampfkunst interessiert sind. Sie bieten Zeit und Raum, sich existentiellen Fragen zu stellen.
Was ist der Mensch? Was ist der Sinn von Leben, Tod und Vergänglichkeit? Was ist der Ursprung und Sinn von Leid? – Gibt es wahres Glück? Was ist der innerste Grund von Sein und Nichtsein, von Existenz und Nichtexistenz? Gibt es ein Woher und Wohin?
Einem konkret bestimmten weltanschaulichen oder religiösen Hintergrund sind die Karate-Retreats des Keiko-kan Dôjôs nicht verpflichtet.
Durch die Wahl besonderer Veranstaltungsorte und die Seminarkonzeption schaffen wir die äußeren Voraussetzungen für die jeweiligen Retreats.
Die Teilnehmer an Kangeiko und TaiMeiGeiko müssen bereit sein, für die jeweils vier Tage des Retreats einen vollkommenen Bruch mit ihrer Alltagswelt zu wagen und bestimmte Regeln einzuhalten, die sie darin unterstützen, sich uneingeschränkt auf sich selbst und das Karate zu konzentrieren.
Die erste und wichtigste Regel für TaiMeiGeiko und Kangeiko ist es daher, daß sich die Teilnehmer für die Dauer des jeweiligen Retreats vollkommen unerreichbar machen. Das bedeutet: Leute, die im Hintergrund (auch auf ihrem Einzelzimmer) ihr Handy oder Tablett nicht auslassen können, weil sie wichtige Dinge zu erledigen haben, Leute, die diese Zeit der Klausur nicht störungsfrei für sich reservieren können, bitten wir, an diesen Retreats nicht teilzunehmen.
Die zweite ebenso wichtige Regel besagt, daß jeder, der sich entscheidet, an einem unserer Retreats teilzunehmen, dies für die gesamte Dauer plant. Spätere Anreise oder frühere Abreise oder sporadisches Teilnehmen nur an bestimmten Programmpunkten stören empfindlich die Gemeinschaft und die Atmosphäre, die wir für die Dauer der Retreats pflegen.
Die beiden Retreats weisen bei aller Ähnlichkeit durchaus unterschiedliche und sehr spezifische Qualitäten auf. Grundsätzlich kann man sagen: Das TaiMeiGeiko ist etwas offener und weniger strikt als das Kangeiko. Aber dennoch ist für die Teilnahme an jedem der beiden Seminare vollkommene Entschiedenheit erforderlich.
In beiden Retreats setzten wir uns praktisch (und in gewisser Weise auch theoretisch) mit dem Konzept der Leerheit auseinander, auf das sich die Bezeichnung der Kampfkunst "Karate" (空 手) unmittelbar bezieht. Zur Verdeutlichung: 空 (kara) bedeutet "leer" und 手 (te) bedeutet "Hand". Das 手 (te) kann auch als "Handlungsweise" verstanden werden, "Karate" ist somit eine "Handlungsweise, die der Leerheit rechnung trägt". Was das wiederum bedeuten soll, ist an anderer Stelle zu erörtern. Für diejenigen, die es genauer wissen möchten, sei an dieser Stelle soviel gesagt:
Das Konzept der "Leerheit" (sanskr.: shunyata) wird mit dem Schriftzeichen
空 kara ausgedrückt. Es bedeutet "Leere, Leerheit". Der Begriff ist nicht nihilistisch zu verstehen, sondern wird hier als ontologischer terminus technicus im Sinne von "Unbeständigkeit" oder als "von Wandel geprägt und daher nicht definierbar" verwendet. Als Zitat aus dem Herz-Sutra (Hannya Shingyo, Prajna Paramita) ist das 空 kara von Funakoshi Gichin und anderen Karatemeistern ins Karate hineingetragen worden. Die theoretisch-philosophische Konnotation im Wort "Karate" geht also über den Gedanken an "unbewaffnete Hände" oder "waffenlose Kampfkunst" weit hinaus.
Im Karate-Dô Kyôhan zitiert Funakoshi den berühmten Satz aus dem Herz-Sutra "Form ist Leere, Leere ist Form; Form ist nichts anderes als Leerheit, Leerheit ist nichts anders als Form" und bezieht dies direkt auf die Bezeichnung seiner Kampfkunst.
Während wir in unserem Kangeiko "Karate und Meditation" den Karate-Weg von der Analyse der Form zur Anwendung gehen (jap. "Bunkai") und damit von der konkreten Form zum Vielgestalting-Unbestimmten (zur sogennannten "Leerheit"), ist es beim TaiMeiGeiko gerade umgekehrt: Die Konzeption des Karate-Trainings führt hier von vom Lehrer vorgegebenen Anwendungen aus zum kreativen Prozeß der Formgebung und Formbildung und damit vom Vielgestaltig-Unbestimmten zum Konkreten; das bedeutet: von der Leerheit zur Form.
Das ist schwer verständlich? Nun, zur Beruhigung: Wir trainieren sowohl beim Kangeiko wie beim TaiMeiGeiko einfach nur Karate. Was ist Karate? Dies: Haltung, Atmung, Bewegung, Selbstbeobachtung, Interaktion. Sonst nichts.