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Karate-Dô. Wie ich den Weg beschreite.

Eine Selbstreflektion von Andreas F. Albrecht

(Diesen Artikel widme ich ganz besonders L., die mehr wissen möchte.)

Ich betreibe seit mehr als vierzig Jahren Karate. Und für mich und meine Entwicklung kann ich nun nach dieser Zeit sagen: Mein Karate hat sich bisher ständig verändert.

Diese Fortentwicklung, die mich in gewisser Weise sehr weit von dem weggeführt hat, was ich einmal als Anfänger und Novize gelernt habe, hätte ich eigentlich niemals erwartet und habe sie auch nie bewußt oder aktiv vorangetrieben. Aber heute weiß ich, daß ich eine große Strecke auf dem Weg zurückgelegt habe – und dies, ohne es zu bemerken, während sich meine Reise auf dem Weg der leeren Hand Schritt für Schritt entfaltet hat.

 

In diesem Jahr bin ich 60 Jahre alt geworden. Es ist das Erschrecken über die nun erschienene 60 und die Erkenntnis, daß mir nicht mehr zu viele Lebensjahre bleiben, die dazu geführt hat, daß ich aktuell begonnen habe, ein Resümee zu ziehen. Ich formuliere – einmal mehr – die vorläufig endgültige Zwischenbilanz meines Karateweges in technischer wie in spiritueller Hinsicht. Das ist aber eher eine Nebensache. Denn zugleich habe ich intensiv damit begonnen, in unterschiedlichen Bereichen meines Lebens zu neuen Horizonten aufzubrechen.

Die verschiedensten Einflüsse und Erfahrungen haben mein Karate im Laufe der Zeit verändert. Zunächst sind es die Einflüsse von Menschen, denen ich begegnet bin und denen ich immer wieder begegnen: Es sind die Eltern, Freunde, Weggefährten, Lehrer, Schüler; es sind geliebte und mich liebende Menschen, aber auch jene Leute und Erfahrungen, die mir das Leben schwergemacht haben oder schwermachen.

Auch die Auseinandersetzung mit meinem eigenen Körper und seinen Schwächen haben mein Karate beeinflußt, ebenso wie die Auseinandersetzung mit anderen Kampfkünsten, in denen ich mich zeitweilig geübt habe. Da waren und sind Einflüsse aus dem Yoga, der Meditation, dem QiGong. Ja, sogar die Erfahrung, die ich beim Erwerb eines inzwischen wieder erloschenen Pilotenscheins machen durfte oder Aufenthalte in der „Natur“, in den Wäldern, zähle ich zu meinen Schritten, die meinem Weg des Karate bereichert haben. Dies kann ich sagen, weil ich dem Satz gefolgt bin: „Verbinde Dein alltägliches Leben mit Karate, darin liegt der Zauber der Kunst.“ (Funakoshi Gichin).

Irgendwann habe ich bemerkt, daß das Shu-Ha-Ri 守破 sich auf meinem Karateweg geradezu beiläufig entfaltet hat und weiterhin entfaltet. Ich habe mir daraufhin sehr kritisch die Frage gestellt, ob das nun eine Einbildung sei oder eine Tatsache. Nun ist kürzlich einer meiner Lehrer, Yuji Sato  (1933-2017) verstorben. Er hat mich 1982 für nur kurze Zeit, aber in einer intensiv erfahrenen Phase meines Lebens begleitet, gefordert und gefördert. Wenn ich überdenke, worin sein Einfluß auf mich besteht, merke ich, daß das Shu-Ha-Ri für mich eine gelebte und erlebbare Tatsache ist.

Was ist nun Karate für mich? Das kann ich ganz klar beantworten: Karate ist für mich eine weiterhin offene Frage. Sie betrifft mich in meiner Körperlichkeit und Leiblichkeit ebenso intensiv wie geistig, seelisch und spirituell.